Eigentlich dachte ich, ich hätte meinen Perfektionismus überwunden. Bis zu dem Tag, an dem ich einfach nur den passenden Rahmen für mein Bild "Mutausbruch" selbst bauen wollte. Das Projekt kostete mich neben Holz und Leim auch jede Menge Tränen. Ob ich es wieder tun würde? Aber natürlich! Weil Perfektionismus mit jedem Mal kleiner wird und meine Seele heilen kann.
Was wir denken, was Perfektionismus ist
Der Esstisch ist voller Zeug, aber in einer halben Stunde kommen die Gäste? Egal, das hier ist keine Möbelausstellung, hier wird gewohnt. Kaffeetrinken können wir auch am Couchtisch.
Der Garten der Nachbarn ist perfekt gepflegt, auf dem Rasen könnte man Golf spielen, alles blüht und gedeiht? Bei mir auch: Meine Rasenhalme wachsen friedlich zwischen Klee, Gänseblümchen und Butterblumen. Die Schmetterlinge taumeln glücklich von Blüte zu Blüte, und ich hab mehr Zeit zum Malen.
Sportprogramm, ausgewogene Ernährung, Pflegeroutine - was könnte man noch alles optimieren! Aber nicht mit mir. Meine Lebenszeit ist kostbar, "gut genug" muss reichen. Perfektionismus war gestern, heute ist Leben angesagt!
Jedes 1. Mal ruft den Perfektionismus auf den Plan
Das klappt ganz gut, solange ich mich innerhalb meiner gewohnten Routinen bewege. Sobald ich etwas zum ersten Mal probiere, switcht der Schalter um, und die altbekannte innere Stimme ist zurück:
"Du glaubst, du kannst das? Nichts kannst du."
"Mach es gescheit, oder lass es bleiben."
"Was bildest du dir eigentlich ein?"
"Das geht sowas von schief - und dann fliegst du auf!"
Ich stehe in meiner Werkstatt und zögere. Dabei bin ich gut vorbereitet, habe Anleitungen gelesen, Tutorials geschaut und Materialien recherchiert. Aber sind es wirklich die richtigen? Soll das wirklich so einfach sein?
Perfektionismus ist nur ein anderes Wort für Angst...
Ich denke an berühmte Kunstwerke, an moderne Ausstellungsräume und perfekt zum Gemälde passende Schattenfugenrahmen, exakt gearbeitet und genau aufs Kunstwerk abgestimmt.
Ich denke an die Kunstakademie, die ich nicht besucht habe und stelle mir vor, wie echte Künstler*innen dort in richtigen Kursen lernen, ihre richtige Kunst in adäquaten Rahmen zu präsentieren.
...und Scham
Ich stelle mir vor, dass es eine Art Geheimwissen gibt, das nur an echte Künstler*innen weitergegeben wird. Wie würde ein echter Künstler so einen Rahmen bauen? Ganz bestimmt völlig anders als ich.
Ich schäme mich für meinen Stallgeruch.
Und ich schäme mich. Für mein Unwissen, meine fehlende Ausbildung, meinen Lebensweg. Für meinen sozialen Status, für meine Herkunft. Für die Gewissheit, dass man nie ganz ablegen kann, woher man kommt.
Für meinen Stallgeruch. Für meinen Neid auf die, die es leichter hatten. Die gefördert wurden, die auf Ressourcen zurückgreifen konnten und auf emotionalen Rückhalt und Fördergelder.
Mögliche Gründe für Perfektionismus als Künstler*in
Die Gründe für schmerzhaften Perfektionismus können vielfältig sein. Aber ganz am Grund liegt immer die Angst. Angst vor dem Scheitern. Angst vor Kritik. Angst vor Misserfolg. Angst vor Ablehnung.
Bei mir ist es die Angst vor sozialem Ausschluss. Davor, kein Teil einer Gruppe sein zu dürfen, sondern immer wieder alleine klarkommen zu müssen. Niemanden fragen zu können, wie etwas geht, stattdessen immer wieder ausprobieren, scheitern, neu versuchen, mich durchwuschteln.
Die eigenen Stärken bewusst machen
Vieles alleine herausfinden zu müssen hat mich gleichzeitig mit einem ungeheuren Lernwillen ausgestattet. Sobald ich für ein Thema brenne, entwickle ich ungeahnte Kräfte. Ich kann recherchieren, durchdenken und mir Zusammenhänge erschließen.
Durch das Ausprobieren vieler Techniken habe ich ein sicheres Gefühl für Materialien. Ich kann mir mittlerweile manchen Schritt sparen, weil ich aus Erfahrung weiß, was geht, und was nicht.
Und doch ist es bei diesem Projekt anders. Hier kann ich nicht auf Erfahrung zurückgreifen, sondern starte völlig blank.
Perfektionismus lässt sich nicht heilen, ohne die Ursache zu benennen
Beim Bauen meines ersten eigenen Schattenfugenrahmens kommen mir die Tränen. Erst, weil die Angst vor dem Scheitern so übermächtig ist. In 24 Stunden muss ich das Bild für die Ausstellung abgeben - ich brauche diesen Rahmen!
Ich weine darüber, dass die Maxime "Du musst es nur wollen!" eine Lüge ist.
Und was, wenn es mir gelingt? Wenn der Rahmen rechtzeitig fertig wird - nur um dann in den Händen von Profis zu Staub zu zerbröseln? Dann wäre das Schauspiel vorbei und alle würden sehen: Ich bin keine echte Künstlerin, sondern nur ein self tought artist. Eine Blenderin.
Ich stehe in meiner Werkstatt und weine über die Ungerechtigkeit der Welt. Dass manche gezeigt bekommen, wie es geht, und andere eben nicht. Dass die Maxime "Du musst es nur wollen" eine Lüge ist. Dass Alleinsein wehtut.
Selbstmitgefühl kann Perfektionismus heilen
Irgendwann versiegen die Tränen und ich kann endlich anfangen zu arbeiten. Ich säge Leisten auf Gehrung, trage Leim auf Schnittkanten auf, sichere das fragile Gebilde mit einem Spanngurt, bis der Leim trocken und stabil wird. Ich schleife Kanten glatt, trage Farbe auf, schleife die Farbe glatt.
Schließlich ist der Rahmen fertig. Ich lege das Gemälde zur Probe hinein. Es passt perfekt.
Ich arbeite sicher und routiniert, als hätte ich es schon tausendfach geübt. Schließlich ist der Rahmen fertig. Ich lege das Gemälde zur Probe hinein. Es passt perfekt.
Ich bohre Löcher vor mit dem kleinsten Bohrer, drehe die passenden Schrauben in die Löcher, das Bild sitzt jetzt fest. Alles ist stabil. Noch zwei Ösen befestigen und daran einen Draht, jetzt fehlen nur noch eine Wand und ein Nagel.
Der Zauber des "gut genug"
Beim Aufhängen bemerke ich, dass an einigen Stellen das helle Holz der Leiste durch die Farbe schimmert. Kurz schießt mir der Puls in die Höhe, dann entspanne ich mich. Mein erster selbstgebauter Rahmen ist nicht perfekt, und gerade deshalb genau richtig für dieses Bild mit dem Titel "Mutausbruch".
Vielleicht liegt der Zauber gerade darin, manche Dinge bewusst unperfekt zu belassen. Den Zufall einzuladen, statt immer weiter zu optimieren. Und dadurch genau die Menschen zu finden, die wissen, wie hart erarbeitet ein "gut genug" sein kann.
Mein Bild "Mutausbruch" ist vom 13.7. - 11.8.2024 im Rahmen der Mitgliederausstellung des Kunstvereins Aichach e.V. zu sehen.
Ort: SanDepot Aichach, Donauwörther Straße 36
Öffnungszeiten: Samstag und Sonntag 14 bis 18 Uhr sowie auf Anfrage.
Vernissage: 13.07.2024 um 15 Uhr
Finissage: 11.08.2024 um 17 Uhr
Acryl und Ölpastell auf Leinwand, 50 x 60 cm